Drehtüren

"Meine Drehtürsituation hat sich hier dramatisch verschlechtert.

Früher war es eine in angenehmster Geschwindigkeit laufende automatisch betriebene Drehtür beträchtlicher Größe, durch die ich beinahe täglich hindurch musste. Pro Schub gingen bis zu fünf Personen problemlos in ein Fach und so trat man während der Stoßzeiten den Weg von drinnen nach draußen bzw. umgekehrt selten allein an.
Die Drehtür hatte die Eigenschaft, stehen zu bleiben und sich erst einige Sekunden später wieder in Gang zu setzen, wenn jemand versehentlich mit den Fersen gegen ein Drehelement kam. Dies geschah ziemlich oft; und dennoch wäre nie jemand auch nur auf die Idee gekommen, ein genervtes Seufzen über die vermeintlich verschwendete Lebenszeit auszustoßen oder denjenigen, welcher seine Füße nicht richtig zu koordinieren wußte, gar böse anzusehen. Vielmehr herrschte stets eine wohlige und warme Atmosphäre, man genoss die kurze Auszeit von der Alltagshatz, lächelte und warf sich Blicke zu. Was waren es für Blicke? Vielsagende Blicke. Was sagten die Blicke denn so zum Beispiel? Etwa dieses hier: "Klar, ich bin mir der Problematik von Begriffen wie >Schicksalsgemeinschaft<, dem >Wir- Gefühl< etc. vollends bewußt, doch steht außer Frage, dass wir just in diesem Moment eben so etwas erleben und, mal ganz unter uns, ich finde es schon irgendwie geil." Kaum hatten die Blicke ausgesprochen, war die Drehtür auch schon wieder in Bewegung, man verließ die kollektivistische Sekundenoase und ging weiter seiner Wege.

Hier ist alles anders. Die Drehtür, durch die ich Tag für Tag muss, bereitet mir keine Freude, sie macht mir schwer zu schaffen, ich fürchte mich vor ihr.
Es handelt sich um eine Schiebedrehtür mit Fächern, die gerade groß genug für eine einzige Person sind. Nicht, dass ich den Mangel an Komfort beklagen wollte, nein, es macht mir natürlich nichts aus, eine Tür eigenhändig zu schieben. Das Problem ist viel mehr, dass auch andere sie schieben können. Denn selbstverständlich bringt niemand die Geduld auf, zwei Viertelumdrehungen abzuwarten, bis ich den Eingang passiert habe. Es muss ganz schnell gehen. Wer weiss, wie lange die Tür noch da ist. Wäre ja Verschwendung, so ein Fach einfach eine Leerrunde drehen zu lassen. Zack, rein da. Direkt hinter mir. Und was bin ich doch lahm, nicht zum Aushalten. Immer wieder ist man also hinter mir der Meinung, die die Drehgeschwindigkeit schlagartig rapide steigern zu müssen, rammt mir die Drehtür mit größtmöglicher Brutalität in die Fersen oder in den Rücken, schleudert mich quasi ins oder aus dem Gebäude und schaut mich anschließend auch noch strafend an, während ich noch überlege, ob nun der Schreck, der körperliche Schmerz oder die Frage, ob ich tatsächlich zu schwach und lethargisch bin, um den Anforderungen der Welt angemessen zu begegnen. Ich halte das nicht mehr aus."

--

An dieser Stelle enden die Aufzeichnungen des Tagebuchschreibers und sicherlich wäre manches anzumerken. Die in den Augen der Miteingesperrten behauptete generell eher kritische Haltung gegenüber den genannten Begrifflichkeiten etwa erscheint ein wenig als alibimäßig vorangestelltes Lippenbekenntnis, ob die leichtfertig und scheinbar ohne längeres Überlegen benutzten Bezeichnungen "Fach" und "Drehelement" korrekt sind, ist sicher auch fraglich - diejenigen, die sich beruflich mit Drehtüren beschäftigen oder es rein zufällig besser wissen, seien angehalten, die zum Stirnrunzeln erforderlichen Muskelpartien möglichst wenig und jene, die man braucht, um einmal ein Auge zuzudrücken, möglichst stark zu beanspruchen, schließlich geht es darum nicht wirklich.
Zur Stunde wird in dieser Stadt ein frisch bedrucktes Blatt Papier in eine bis dahin noch unbenutzte Akte geheftet:

"Der von seinen Bekannten als bis heute kontrolliert und zurückhaltend bis schüchtern beschriebene Patient wurde am späten Morgen dabei beobachtet, wie er sich im Eingangsbereich einer Universitätsbibliothek kraft seines ganzen Gewichtes gegen das Drehelement (?) einer Drehtür stemmte, die dadurch eingesperrte Person im Fach hinter ihm mit den Worten >Ich lass Dich jetzt da drinnen verhungern, Schwein!< anschrie und sich anschließend auf den Boden setze, wo er regungslos für mehrere Stunden ausharrte, bis er schließlich gegen seinen energischen Widerstand entfernt wurde. Eine vorläufige Einbehaltung zwecks weiterer Observation erscheint nach jetziger Sachlage dringend empfohlen."

/quote

"Having been fucked is no excuse for being fucked up." (Kimya Dawson)

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